18.11.25 – Gastbeitrag: Zukunft des Einkaufens
Handel investiert in Restrukturierung statt in KI
Europäische Handelsunternehmen rechnen für 2025 mit einer EBIT-Marge von 5 % im Median. Eine ernüchternde Perspektive, findet unsere Gastautorin Heike Scholz von Zukunft des Einkaufes. Sie stellt fest: Während die Branche hektisch reorganisiert, Geschäftsmodelle anpasst und Supply-Chains umbaut, liegt das größte Hebelpotenzial weitgehend ungenutzt: Künstliche Intelligenz.
Die Horváth-Studie „Management Priorities in Retail 2025“, für die über 40 Vorstände und Geschäftsführer namhafter europäischer Handelsunternehmen befragt wurden, zeigt ein Paradoxon. Reorganisationsthemen sind im Prioritäten-Ranking von Platz 9 auf Platz 2 gesprungen, Geschäftsmodellanpassungen um vier Plätze nach oben auf Platz 4 geklettert. Die Branche steckt tief in der systematischen Transformation, doch ausgerechnet beim entscheidenden Werkzeug fehlt der Mut.
KI-Budget bleibt trotz radikaler Erwartungen minimal
Das KI-Budget verharrt bei lediglich 0,4 % des Gesamtumsatzes. Gleichzeitig erwarten 54 % der befragten Führungskräfte, dass sich Geschäftsmodelle, Strukturen und Prozesse durch KI innerhalb der nächsten zwei Jahre radikal verändern werden. Diese Diskrepanz zwischen Erwartung und Investitionsbereitschaft könnte fatale Folgen haben.
Chinesische Konkurrenz nutzt Nachhaltigkeitsmüdigkeit
70 % der befragten Händler betrachten asiatische Plattformen wie Temu und Shein trotz deren Qualitätsdefiziten als kritisch für die eigene Wettbewerbsposition. Diese Tech-Unternehmen treten mit vollständig digitalisierten Wertschöpfungsketten gegen etablierte Handelsmodelle an. Chinesische E-Commerce-Unternehmen sind stark im taktischen Pricing, bei Personalisierung und digitaler Reaktionsgeschwindigkeit.
Der Trend wird durch ein sinkendes Interesse an Nachhaltigkeit befeuert. Zwei Drittel der Unternehmensverantwortlichen sagen aus, dass Nachhaltigkeit nicht nur aufgrund gelockerter Regulierungen an Bedeutung verliert, sondern vor allem wegen der sinkenden Zahlungsbereitschaft der Kunden für nachhaltige Produktion. Preisbewusste Kunden finden in Temu und Shein eine attraktive Alternative, während europäische Händler ihre Preise kaum senken können.
Omnichannel scheitert an fehlender Transformation
81 % der befragten Führungskräfte sehen weiteren Transformationsbedarf bei Omnichannel in Bezug auf Steuerung, Vertriebsorganisation, Logistik, IT-Systeme sowie Unternehmenskultur und Mitarbeiter-Skills. Eine Omnichannel-Strategie ist mehr als nur „Click & Collect“ oder „Ship-from-Store“. Es handelt sich um eine ganzheitliche Transformation des Operating Models, die erst funktioniert, wenn auch die Organisation entsprechend ausgerichtet ist.
Die Potenziale hat die Branche erkannt, doch die Umsetzung bleibt mangelhaft. Während die Händler ihre Organisationsstrukturen umbauen, fehlt die konsequente Integration der Vertriebskanäle. Das Ergebnis sind isolierte Insellösungen statt durchgängiger Customer Journeys.
Stationärer Handel als Zukunftshoffnung
93 % der befragten Retailer sind von der Zukunftsfähigkeit des stationären Handels und der Innenstädte überzeugt. Erfolgskritisch sind aus Sicht der Studienteilnehmer vor allem der Fokus auf das Kauferlebnis, die Beratungsqualität sowie die konsequente Omnichannel-Integration. Auch strukturelle Rahmenbedingungen wie gute Erreichbarkeit, faire Mietpreise und die Besteuerung von Onlineplattformen wie Amazon werden als erfolgsentscheidende Faktoren genannt.
Die Überzeugung vom stationären Handel ist nachvollziehbar, doch sie darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die digitale Transformation parallel vorangetrieben werden muss. Wer auf die Innenstädte setzt, aber die technologische Infrastruktur vernachlässigt, wird beide Welten verlieren.
Fazit: Ohne saubere Prozesse verpufft KI-Potenzial
Die Studie offenbart ein grundlegendes Missverständnis in der Handelsstrategie. Angesichts hoher Umsätze bei geringen Margen besteht die Gefahr, dass Digitalisierung und insbesondere KI-Implementierung nicht mit den notwendigen Ressourcen vorangetrieben werden. Die Unternehmen restrukturieren zwar intensiv, doch die entscheidende Frage bleibt: Optimieren sie die richtigen Dinge?
Es gilt auch hier: Wer einen schlechten Prozess digitalisiert, hat am Ende einen schlechten digitalen Prozess. Die aktuellen Reorganisationsmaßnahmen könnten die notwendige Basis für eine erfolgreiche KI-Implementierung schaffen, wenn sie denn konsequent auf die Anforderungen datengetriebener Systeme ausgerichtet sind. KI-Potenziale heben sich nur mit sauberen, standardisierten Prozessen und qualitativ hochwertigen Daten. Das Problem: Bei einem KI-Budget von 0,4 % des Umsatzes ist fraglich, ob die Restrukturierungen überhaupt mit Blick auf spätere KI-Integration erfolgen.
Die chinesische Konkurrenz zeigt, wie digitalisierte Wertschöpfungsketten funktionieren. Europäische Händler müssen verstehen, dass Restrukturierung und Digitalisierung keine Entweder-oder-Frage sind, sondern zwingend Hand in Hand gehen müssen. Wer heute restrukturiert, ohne bereits die technologischen Anforderungen von morgen mitzudenken, verschwendet Ressourcen zweifach: einmal für die Restrukturierung und später nochmals für die nachträgliche Anpassung an KI-Systeme.




